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Kommunikation braucht immer zwei: Autistisch Leben in einer nicht autistischen Welt

Dieser Beitrag ist zum Nachlesen für alle, die am Event vom 1. Mai 2025 nicht anwesend sein konnten, die etwas nochmal überprüfen wollen, und die mehr Details möchten.

Gleich zu Beginn findet ihr alle Studien, die ich im Vortrag erwähne. Es handelt sich um Open Access Publikationen, der Einfachheit halber habe ich sie direkt hier hochgeladen.

Der zweite Punkt ist eine Videoaufnahme vom 1. Mai. Sie wurde mit einem Handy aus der ersten Reihe gemacht, deshalb sieht man nicht die ganzen Folien und die Tonqualität könnte besser sein.

Deshalb folgt anschliessend das Transkript des Vortrages, bei dem ich alle Folien nochmals als Bilder eingefügt habe.





Quellen

Sterblichkeit


Suizidrisiko


Camouflage: Definition, Erfahrungsberichte


Camouflage: Risiken (Angststörungen, Depression)


Beobachtete soziale Interaktionen


Echte soziale Interaktionen


Das Doppelte Empathieproblem


Einleitung

Präsentationsfolie mit folgendem Inhalt: Zeichnung von zwei Kindern mit einem Büchsentelefon oder Schnurtelefon. Die Schnur ist nicht gespannt, das Telefon funktioniert nicht. Daneben der Titel: "Kommunikation braucht immer zwei" und der Untertitel "Autistisch leben in einer nicht autistischen Welt".

Guten Abend, meine Damen und Herren Danke, dass Sie den Weg nach Schwanden gefunden haben. Bei meiner Hauptprobe gestern hatte ich noch keine Begrüssung. Ich wollte Ihnen damit einen Gefallen tun: Mehr Zeit für den Inhalt. Mein Mann hat mir gesagt, das würden die Leute nicht verstehen. Sie würden wissen wollen, wer hier steht redet.




Präsentationsfolie mit dem Titel "Wer spricht hier?". Bulletpoints: Madlaina Brugger, 37 Jahre; Autistin: Dr. phil., Geschichte, Spanisch, Digitale Geisteswissenschaften; Leiterin Glarner Wirtschaftsarchiv; Spezialinteressen: XML, Behindertenpolitik und Inklusion, Autismus. Daneben eine Zeichnung eines Laptops mit Code und einer Schriftrolle (Symbolbild für Digitale Geisteswissenschaften).

Also: Mein Name ist Madlaina Brugger, ich bin 37 Jahre alt und wohne mit meinem Mann und Kind in Niederurnen. Ich bin Autistin.

Ich habe Geschichte und Spanisch studiert und eine Doktorarbeit geschrieben zur Frage, ob und wie man computergestütze Methoden für die Erforschung von Mittelalterlichen Texten verwenden kann. Jetzt bin ich wissenschaftliche Leiterin des Glarner Wirtschaftsarchives, der Hänggiturm hier ist Teil meines Arbeitsortes.

Als mich Gaby für die Veranstaltung anfragte, schlug ich ihr diesen Ort vor, weil ich weiss, dass die Akustik gut ist für sensible Ohren. Ausserdem habe ich den Weg zu unserem Kaffeeraum ausgeschildert, falls jemand eine Pause von zu vielen Leuten braucht. Wenn jemand lieber steht, hin- und hergeht, auf dem Boden sitzt, seine oder ihre Hände beschäftigen muss: Fragen Sie nicht. Tun Sie es. Heute soll ein inklusiver Abend sein.

Wahrscheinlich kennen Sie das Klischee, dass Autist*innen gerne ausführlich über ihre Spezialinteressen reden, mit jedem, den sie zum Zuhören bringen können. Wenn nicht, werde ich Ihnen jetzt vorführen, wie das geht, denn Autismus ist eines meiner Spezialinteressen.



Und weil ich nur fünfzehn Minuten statt fünfzehn Stunden Zeit habe, werde ich mich auf etwas beschränken, das mich im Moment besonders beschäftigt:


Präsentationsfolie mit Screenshot einer Studie, der Titel ist lesbar: "Premature mortality in autism spectrum disorder", darunter gross die Zahl 54.

Das durchschnittliche Todesalter autistischer Menschen liegt bei knapp 54 Jahren.

54 Jahre. Vierundfünzig!

Nicht autistische Menschen leben im Schnitt 16 Jahre länger. Sie werden 70.



Die Quelle dafür ist eine Studie des Karolinska Instituts, eine der weltweit führenden medizinischen Universitäten der Welt. Nebst den nackten Zahlen wurden auch die Todesursachen analysiert.


Präsentationsfolie mit Screenshot einer Studie, der Titel ist lesbar: "Premature mortality in autism spectrum disorder", darunter der Titel "Sterblichkeit" und diese Buttelpoints: Lebenserwartung: 54 Jahre; Todesursachen: Epileptische Anfälle, Herz-Kreislauf-Attacken, Suizid.

Wir sterben ja nicht an Autismus. Wir sterben an epileptischen Anfällen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Suizid.

Aber weshalb? Haben wir mehr epileptische Anfälle und häufiger Herzstillstand, oder verlaufen diese Ereignisse für uns häufiger tödlich? Und weshalb? Dass diese Fragen besser erforscht werden, meine Damen und Herren, gehört schon lange zu den zentralen Forderungen der autistischen Community.

Weil es heute aber um die allgemeine Gesellschaft geht, und nicht um das Gesundheitswesen, konzentriere ich mich auf die dritthäufigste Todesursache autistischer Menschen: den Suizid.



Präsentationsfolie mit dem Screenshot einer Studie, Titel: "Risk markers for suicidality in autistic adults". Darunter der Titel "Suizidrisiko" und diese Bulletpoints: Gesamte Bevölkerung: 33%; Autisten und Autistinnen: 72%; Risikofaktoren sind bei ASS häufiger; ASS-Spezifische Risiken: keine Unterstützung, Camouflage.

Diese britische Studie von 2018 untersucht „Risikofaktoren für Suizid bei autistischen Erwachsenen“

33% der Gesamtbevölkerung ist suizidgefährdet. Bei Autist*innen beträgt der Anteil 72%.

Arbeitslosigkeit oder Unzufriedenheit mit der Lebenssituation sind Risikofaktoren für alle Menschen. Bei Autist*innen kommen sie aber häufiger vor. In England geht man davon aus, dass 60-80% aller Autist*innen arbeitslos sind. Autist*innen mit hohem Unterstützungsbedarf werden leider immer noch allzu häufig in ihren Fähigkeiten unterschätzt, in Institutionen versorgt, und fristen ihr Leben fremdbestimmt.

 

Wie wenn das nicht genug wäre, gibt es zwei Risikofaktoren, die nur bei den autistischen Menschen auftreten. Erstens: Fehlende «accomodations», was sowohl handfeste Unterstützung wie simples Entgegenkommen beinhaltet. Je nach Bedarf kann dieser Faktor mehr oder weniger ins Gewicht fallen.

Zweitens: Camouflage oder Maskieren.


Wenn das für Sie ein neuer Begriff ist, keine Angst, denn hier kommt die nächste Studie: «Putting on My Best Normal», etwa: «Mich als Normal verkleiden». Dabei handelt es sich um eine qualitative Studie, welche dieses Konzept inhaltlich erforscht und beschreibt.

Präsentationsfolie, Screenshot einer Studie mit dem Titel "Putting on My Best  Normal: Social Camouflaging in Adults with Autism Spectrum Conditions". Daruter der Titel "Was ist Camouflage?" und diese Bulletpoints: Motivation: notwendiges Übel; Methoden: Masking (autistische Züge unterdrücken), Compensation (Andere imitieren); Folgen: Erschöpfung, nicht sich selbst sein.

Autistische Menschen wurden gefragt, weshalb sie Camouflage einsetzen, wie sie das tun, und wie sie sich dabei fühlen.

Die Motivation ist simpel und nachvollziehbar: So zu tun, als wäre man nicht autistisch, ist oft notwendig, um in der Gesellschaft bestehen zu können.

Camouflage besteht aus zwei Faktoren:

-             dem masking, also Verstecken und Unterdrücken von autistischem Verhalten

-             und der compensation, also der Imitation von nicht-autistischem Verhalten, wie z.B. den Leuten in die Augen zu schauen oder Fragen über das Wetter zu stellen.

Fast alle Studienteilnehmenden berichten von negativen Folgen:

Erstens eine absolute, allumfassende Erschöpfung. Eine Teilnehmerin beschrieb soziale Interaktionen, als wäre man an einer Prüfung. Aufs äusserste gespannt, die Körpersprache des Gegenübers und die eigene stetig analysierend, jedes Wort auf die Goldwaage legend – und das, ohne am Ende ein brauchbares Feedback zu haben, ob man gut performt hat.

Zweitens das Gefühl, nicht mehr sich selbst zu sein.

Meine Damen und Herren, meine eigene Erfahrung deckt sich mit den Aussagen der Studienteilnehmenden. Es wundert mich überhaupt nicht, dass Autist*innen ein hohes Suizidrisiko haben.


Laura Hull, die Hauptautorin der Studie von 2017, gab sich aber damit noch nicht zufrieden. Qualitative Studien sind oft der Ausgangspunkt für weitere Fragen, und so veröffentlichten Hull und ihr Team 2021 eine Studie mit dem Titel:


Präsentationsfolie mit Screenshot einer Studie, Titel: "Is social camouflaging associated with anxiety and depression in autistic adults?". Darunter der Titel "Risiken von Camouflage" und diese Bulletpoints: Angststörungen, Depressionen.

«Besteht bei autistischen Erwachsenen ein Zusammenhang zwischen Camouflage und Angststörungen oder Depressionen?»

Die kurze Antwort lautet: Ja.

Im Detail: Camouflage wird mit dem CAT-Q, dem Camouflaging Autistic Traits Questionnaire, gemessen. In diesem Fragebogen kann man zwischen 25 und 175 Punkten erhalten. Je höher der Wert, desto häufiger und ausgefeilter wendet man Camouflage an.



Die Studienteilnehmenden haben sowohl den CAT-Q ausgefüllt, wie auch standardisierte Fragebögen zu Generalisierter Angststörung, Depression, und Sozialer Angststörung. Dabei handelt es sich um screening tools, also Fragebögen, bei dem ab einem gewissen Schwellwert eine klinische Diagnose durchgeführt werden sollte.


Präsentationsfolie mit dem Titel "CAT-Q" und drei Bulletpoints: 25-175 Punkte; Hoher Wert = häufige und komplexe Camouflage; hoher Wert = hohes Risiko für Angststörungen und Depressionen. Daneben eine Tabelle aus der Studie mit der Überschrift „Probability of scoring above the clinical cut-off point for generalised anxiety (GAD-7), depression (PHQ-9), and social anxiety (LSAS), at a range of total camouflaging scores.“ Die CAT-Q-Scores steigen in Schritten von 25 Punkten von 25 bis 175. Die Wahrscheinlichkeit für den klinischen cut-off steigt bei allen drei Tests kontinuierlich, aber nicht linear. Die grössten Sprünge in der Wahrscheinlichkeit sind fett markiert. Beim Anstieg im CAT-Q von 100 zu 125 Punkten springt die Wahrscheinlichkeit, im GAD (generalisierte Angststörung) den Cut-Off zu erreichen, von 37% auf 60%. Beim PHQ (Depression) springt sie an derselben Stelle von 51% auf 67%. Beim LSAS (soziale Angststörung) ist der Sprung früher. Beim Anstieg im CAT-Q von 50 auf 75 Punkte springt die Wahrscheinlichkeit von 44% auf 76%.

Die Auswertung machte deutlich, dass erhöhte Camouflage mit dem Risiko, den Schwellenwert bei allen drei Screening Tools zu überschreiten, einhergeht.

Man kann also getrost sagen, ein Zusammenhang zwischen Camouflage und psychischer Gesundheit ist vorhanden, und wenn man dann die qualitative Studie von vorhin zur Hand nimmt, und zusätzlich zur Empirie auch noch Empathie wirken lässt, ist klar, in welche Richtung die Kausalität geht.


An dieser Stelle ist der richtige Ort für den Einwand, Camouflage nicht vorschnell zu verurteilen. Denn auch hier macht die Dosis das Gift, und Benefits von Camouflage kann man sich gut vorstellen.

In den Diagnosekriterien heisst es schliesslich, Autist*innen hätten – ich zitiere – „Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktionen und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten».

Präsentationsfolie mit dem Titel "Soziale Defizite überwinden". Darunter ein Zitat aus dem ICD-11 "Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktionen und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten". Dann ein Bulletpoint "Hypothese" mit drei Unterpunkten: Sozialtraining bildet Skills; Mehr Skills führen zu positiven sozialen Interaktionen; Autistinnen und Autisten sind glücklicher. Daneben das ICD-Logo.

Das führt zu folgender, auf den ersten Blick einleuchtender Überlegung: Wenn Autist*innen lernen würden, diese Defizite zu kompensieren, hätten sie erfolgreichere soziale Interaktionen, wären besser integriert und glücklicher.

Das tönt verlockend. Und es ist der Grund, weshalb wir – bewusst oder unbewusst – Camouflage betreiben. Es gibt nur einen Haken: Es funktioniert nicht.


Diese Studie von 2016 zeigt, dass nicht autistische Menschen uns weniger sympathisch finden und weniger Interesse haben, uns kennen zu lernen, als die Menschen der Kontrollgruppe, und zwar basierend auf Ton- oder Videoaufnahmen von 2 bis 10 Sekunden. Wir haben gar keine Chance, unsere hart erworbenen Skills zu zeigen!

Präsentationsfolie mit dem Screenshot einer Studie, Titel "Neurotypical Peers are Less Willing to Interact with Those with Autism based on Thin Slice Judgments". Darunter die Überschrift "beobachtete Soziale Interaktionen" und drei Bulletpoints: 2-4s / 10s; reiner Inhalt (Text): Autistische Menschen sind sympathisch; Mit Äusserlichkeiten (Ton, Foto, Video): Austistische Menschen sind unsympathisch.

Die einzige Variante, in denen Autist*innen als gleich sympathisch bewertet wurden wie die nicht austistischen Menschen der Kontrollgruppe, war, wenn das Gesagte transkribiert wurde. Sobald man aber dem Text ein Foto hinzufügte, wurden wir wieder unsympathisch. Bei der nicht autistischen Kontrollgruppe war das Gegenteil der Fall.



Präsentationsfolie mit dem Screenshot einer Studie, Titel: "Social Cognistion, Social Skill, and Social  Motivation Minimally Predict Social Interaction OUtcomes for Autistic and Non-Autistic Adults. Folientitel: "echte Soziale Interaktionen",  Bulletpoints: Soziale Kognition, Skills und Motivation autistischer Menschen: Kein Zusammenhang; Soziale Kogntion der nicht autistischen Menschen: positiver Zusammenhang bei Gespräch mit autistischen Menschen.

Es geht noch weiter. Diese Studie von 2020 liess Menschen ein fünfminütiges echtes Kennenlerngespräch führen und danach den Gesprächspartner und das Gespräch bewerten. Ebenso mussten die Teilnehmenden Fragebogen zu Sozialer Kognition, Sozialen Fertigkeiten und Sozialer Motivation beantworten. Wie gut autistische Menschen in diesen Bereichen abschnitten, hatte keinen Zusammenhang damit, wie sie bewertet wurden. Den einzigen Zusammenhang gab es bei der Sozialen Kognition nicht autistischer Menschen: Wenn diese hoch war, verliefen ihre Gespräche mit autistischen Partner*innen besser.

Überrascht?

Ich nicht. Und die Studienleitung auch nicht wirklich, obwohl sie diese Hypothese nicht aufgestellt hatte.


Es ist nämlich nichts anderes als empirische Untermauerung für das doppelte Empathieproblem. Dieses Konzept wurde 2012 zum ersten Mal beschrieben und ist simpel genug:


Präsentationsfolie mit Screenshot einer Studie, Titel:: "On the ontological status of autism: the 'double empathy problem'. Folientitel: Das doppelte Empathieproblem. Bulletpoints: Interaktion = Wechselseitig; NA verstehen autistische Menschen nicht; Soziale Skill = kontextabhängig.

Soziale Interaktion ist wechselseitig. Kommunikationsprobleme sind nicht einfach die Schuld von autistischen Menschen.

Neurotypische Menschen haben Mühe, nonverbale Signale von autistischen Gesprächspartnern zu bemerken und zu deuten.

Soziale Fertigkeiten sind relativ, kontextabhängig und mehr eine Frage der wechselseitigen Dynamik als individueller Fähigkeit.



Meine Damen und Herren, das doppelte Empathieproblem ist der Grund, weshalb ich auf dem etwas sperrigen Titel für heute Abend bestanden habe. Ich hoffe, ich konnte Ihnen zeigen, wie relevant dieses Konzept für die Gesundheit von uns Autist*innen ist.

 

Ich weiss, ich habe Sie mit Fakten bombardiert. Zum Schluss möchte ich Ihnen zusammenfassend diese Botschaft mit auf den Weg geben:

Autist*innen sind nicht das Problem. Gegenseitiges Verständnis ist das Problem. Wir machen unseren Part. Wir lernen eure Sprache. Jetzt ist der Ball bei euch. Macht einen Schritt auf uns zu.

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