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Über Autismus

Infografik zu den wichtigsten Merkmalen von Autismus (was Autismus ist) und den häufigsten falschen Vorstellungen (was Autismus nicht ist)

In Kürze

Imaginäre Neurotypische Interviewerin (Inti): Madlaina, du beschäftigst dich seit Jahren intensiv mit dem Thema Autismus. Kannst du mir sagen, was das eigentlich ist?


Madlaina: Wir wissen es noch nicht.


Inti: Okay, das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Wir wissen ja auch nicht nichts, oder?


Madlaina: Einer Antwort auf die Frage, was Autismus ist, kann man sich auf verschiedene Arten annähern. Es gibt erstens die klassische psychiatrische Herangehensweise, bei der das Verhalten autistischer Menschen beobachtet wird. Die Autismusdiagnose beruht auch heute noch stark darauf. Zweitens kann man versuchen, das Innenleben autistischer Menschen zu ergründen, durch qualitative und quantitative Befragungen nach ihrer Wahrnehmung, ihren Gefühlen und Gedanken, sowie durch bildgebende neurowissenschaftliche Untersuchungen.

Die in den USA beheimatete Selbstvertretungsorganisation Autistic Self Advocacy Network (ASAN) fasst den Stand der Dinge aus beiden Perspektiven wie folgt zusammen:


Jede autistische Person erlebt Autismus anders, aber es gibt einige Dinge, die viele von uns gemeinsam haben. 1. Wir denken anders. 2. Wir verarbeiten Sinneswahrnehmungen anders. 3. Wir bewegen uns anders. 4. Wir kommunizieren anders. 5. Unser Sozialverhalten ist anders. 6. Wir brauchen Hilfe im täglichen Leben. Nicht alle autistischen Menschen finden sich in allen diesen Punkten wieder. Es gibt verschiedene Arten, autistisch zu sein. Das ist ok! (Quelle: ASAN, Übersetzung der Verfasserin)

Inti: Ok, das andere Denken ist interessant, aber das sehe ich einer Person ja nicht an. Woran erkennen Ärztinnen und Psychologen, dass sich bei jemandem ein Diagnoseverfahren lohnen könnte?


Diagnosekriterien

Madlaina: Wie ich oben angedeutet habe, beruhen die Diagnosekriterien grundsätzlich auf Verhaltensbeobachtungen, und die sind ja von aussen erkennbar. Dabei werden zwei Werke herangezogen: Das Diagnostic and Statistical Manual des psychiatrischen Berufsverbandes der USA, dessen aktuelle fünfte Version (DSM-V) 2013 publiziert wurde, und die International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation. Dessen neueste Version, ICD-11, wurde 2021 veröffentlicht.


In der Schweiz ist die Anpassung der nationalen Gesetze – dabei geht es vor allem um die Abrechnung über die Krankenkassen – noch nicht abgeschlossen, deshalb ist momentan noch das ICD-10 bindend.

Linus Müller von autismus-kultur.de hat dazu ausführliche Beiträge verfasst und vergleicht das ICD-10 und ICD-11 auf übersichtliche Weise. Er übersetzt die englischen Diagnosekriterien vollständig und akkurat, ich zitiere hier nur einen kleinen Ausschnitt.


Laut dem ICD-11 zeichnet sich Autismus aus durch:

Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktionen und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten, sowie eingeschränkte, sich wiederholende und unflexible Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder exzessiv sind. (Quelle: ICD-11, Übersetzung Linus Müller)

Auf den soeben zitierten Satz folgen lange Listen von sehr konkreten Verhaltensweisen. Wie ich bereits erwähnte, ist der grosse Vorteil der Diagnosekriterien, dass Verhalten von aussen sichtbar ist, und Personen aus dem Umfeld autistischer Menschen eine Abklärung initiieren können. Gerade im Fall von Kindern ist das wichtig. Ein kleiner Wermutstropfen ist, dass immer noch bestimmte autistische Menschen (grundsätzlich alle, die keine weissen Jungs sind) schlechter erkannt werden. Das liegt meiner Meinung nach aber nicht an Fehlern im ICD-11, sondern daran, dass die meisten Psychiaterinnen und Psychiater mit älteren Unterlagen geschult wurden, wo es diese Fehler noch gab. Felizitas Ambauen veranschaulicht das im Podcast «Beziehungskosmos» (Episode 96 vom 5.7.2024).


Inti: Ich sehe, die Diagnosekriterien zeichnen kein vollständiges Bild. Vieles von der ASAN-Liste fehlt. Ist das schlimm? Eine Diagnose ist ja nur der Anfang.

Ja, es ist problematisch. Denn viele Menschen, auch medizinisches, therapeutisches und pädagogisches Fachpersonal, sehen diese Kriterien nicht, wie ich es dargestellt habe, als praktischen Weg, Autismus festzustellen, sondern als Definition dessen, was Autismus ist. Das zeigt sich insbesondere darin, dass Therapien sich auf Verhaltensmodifikation beschränken, ohne auf die darunterliegenden psychosomatischen Ursachen einzugehen.


Auch die konkrete Formulierung ist schwierig. Es wird von Defiziten gesprochen, Wörter wie «unflexibel» sind in der heutigen Gesellschaft, wo Flexibilität als Grundkompetenz vorausgesetzt wird, negativ besetzt. Dieses Thema beschäftigt mich stark: Wer bestimmt, welche Interessen angemessen sind? Wann sind Routinen nützliche Gewohnheiten und Life Hacks, und wann sind sie «krankhaft»? Doch ich weiche ab, dieses Gespräch muss vertagt werden.


Die Formulierung im ICD-11 ist abwertend, aber das DSM-V und das ICD-10 sind schlimmer. Anders gesagt: In den vergangenen Jahren haben immer mehr Betroffene gegen das defizitäre Modell und die verletzende Sprache aufbegehrt. Das hat zu ersten Veränderungen geführt. Ich bin deshalb verhalten optimistisch, dass, je mehr mit den Betroffenen geredet wird statt über sie, auch die Handbücher dazu übergehen werden, neutrale Begrifft (z.B. «Merkmal» statt «Symptom» und «Unterschied» statt «Defizit») zu verwenden.


Inti: Wow, das war jetzt ziemlich viel Information. Könntest du das etwas zusammenfassen? Was sollen Leser*innen zum Thema Diagnosekriterien mitnehmen?


Madlaina: Die Diagnosekriterien beschreiben, wie autistische Menschen nach aussen wirken. Sie erfüllen dadurch ihren Zweck, dass autistische Menschen diagnostiziert werden können, (Selbst-)Aufklärung stattfinden und Hilfe beansprucht werden kann. Sie erklären nicht, weshalb sich autistische Menschen so verhalten, wie sie es tun, und können deshalb auch nicht die Grundlage für therapeutische Arbeit sein.


Mögliche Erklärungen für Autismus

Inti: Kommen wir zum zweiten Teil. Du hast vorhin psychosomatische Ursachen autistischen Verhaltens angesprochen. Was weiss die Forschung darüber?


Madlaina: Es gibt verschiedene Modelle um Autismus zu erklären. Grundsätzlich geht es darum, dass die neurologische Entwicklung anders verläuft als bei nicht autistischen Menschen, das heisst, Hirn und Nervensystem unterscheiden sich von denen der Mehrheit. Das ist übrigens nicht nur bei Autismus der Fall, aber über die ganze Bandbreite von Neurodiversität zu sprechen würde den Rahmen sprengen, auch das machen wir ein andermal.


Autistische Hirne


Inti: Heisst das, man könnte mit einem Hirnscan Autist*innen diagnostizieren?


Madlaina: Nicht ganz. Es gibt Studien, bei denen der Unterschied zwischen autistischen und nicht autistischen Hirnen sichtbar war, aber wir befinden uns diesbezüglich noch am Anfang der Forschung. Es gibt auch Studien, bei denen keine Unterschiede festgestellt werden konnten. Es gibt zwei Modelle, bei denen es grundsätzlich um die Hirnstruktur und Hirnaktivität geht, das sind die Konnektivitätstheorie und die Theorie der intensiven Welt. Bei anderen Theorien spielen sie eine weniger zentrale Rolle.

Inti: Ok, dann erkläre bitte so kurz wie möglich die ersten zwei Theorien.


Konnektivität

Madlaina: Die Konnektivitätstheorie besagt, dass in autistischen Hirnen benachbarte Regionen stärker vernetzt sind als bei Nicht-Autist*innen. Bei den Verbindungen zwischen weiter entfernten Hirnregionen ist es genau umgekehrt, die sind bei Autist*innen schlechter vernetzt. Man spricht auch von lokaler Hyperkonnektion und globaler Hypokonnektion.


Inti: Und wie kommt es dazu?


Madlaina: Die Nervenzellen im Hirn und Körper sind mit sogenannten Synapsen verbunden. Synapsenbildung fängt schon bei Embryos an, aber nach der Geburt wird sie beschleunigt und erreicht mit etwa 2-3 Jahren einen Höhepunkt. Synapsen werden stärker, wenn sie häufig benutzt werden, und schwächer, wenn man sie nicht benutzt. Sie können auch wieder abgebaut werden. Diese Synapseneliminierung fängt im dritten bis vierten Lebensjahr an, etwa ab dem 10. Lebensjahr beginnt sie sich zu verlangsamen und ist Ende 20 abgeschlossen.


Inti: Das tönt ja erstmal wie ein Widerspruch. Mit zwanzig ist man schlauer und fähiger als mit zwei, obwohl das Hirn weniger Verbindungen hat?


Madlaina: Es hat zwar weniger Verbindungen, aber diese sind dafür effizienter. Man muss sich die frühe Synapsenbildung wie ein Wildwuchs vorstellen. Bei der Eliminierung werden die überflüssigen Synapsen abgebaut. Man benutzt dafür auch den englischen Begriff Pruning, der normalerweise das Zurechtstutzen von Bäumen und Sträuchern meint. Das Pruning führt zu einer Feinabstimmung, es verschwinden nur redundante oder nicht mehr funktionale Verbindungen.


Inti: Und das ist bei autistischen Menschen anders?


Vor zehn Jahren hat man in einer kleinen Studie festgestellt, dass autistische Jugendliche viel mehr Synapsen haben als neurotypische Gleichaltrige, bei jüngeren Kindern war dieser Unterschied nicht festzustellen. Deshalb vermutet man, dass bei autistischen Menschen dieses Pruning nicht gleich stark stattfindet, und manche Teile autistischer Hirne zu stark verbunden sind. Das würde zum Beispiel erklären, weshalb Autist*innen so stark auf Sinnesreize reagieren und auch, weshalb wir in bestimmten sozialen Situationen überfordert sind. Wenn zu viele Synapsen gleichzeitig feuern, können die Informationen nicht mehr verarbeitet werden.


Inti: Haben deshalb autistische Menschen Routinen und ein Bedürfnis nach klaren Strukturen?


Madlaina: Genau. Man könnte auch sagen, unsere inneren Filter sind zu durchlässig, deshalb brauchen wir äussere Filter, weniger Input. Was ich als Letztes ergänzen will: Man hat diese Eigenart im Hirn von autistischen Jugendlichen festgestellt. Es könnte sein, dass Autismus durch diese Synapsenstruktur hervorgerufen wird, oder es könnte auch umgekehrt sein, dass die schwache Synapsenelimination eine Folge von Autismus ist. Oder es könnte ein noch unbekannter Faktor sein, der sowohl zu Autismus als auch zu dieser Synapsenstruktur führt.


Theorie der intensiven Welt

Inti: Gut, das habe ich glaube ich verstanden. Du hast noch die Theorie der intensiven Welt erwähnt.


Madlaina: Danke für die Überleitung. Die Theorie der intensiven Welt hat einige Parallelen zur Konnektivitätstheorie. Sie sagt, dass autistische Menschen nicht zu wenig, sondern zu viel fühlen. Nicht nur Sinnesreize wie Licht oder Geräusche können zu intensiv sein, sondern auch Gefühl und Empathie. Manche Autist*innen nehmen die Gefühle anderer wahr, als wären es die eigenen. Der Rückzug aus sozialen Situationen ist demnach keine Abneigung anderen Menschen gegenüber, sondern ein Schutzmechanismus.


Inti: Und das lässt sich mit Hirnscans belegen?


Madlaina: Nicht ganz. Es sind Hirnscans von Ratten, die man durch die Gabe von bestimmten Stoffen dazu gebracht hat, sich autistisch zu verhalten. Diese Ratten haben im Schnitt doppelt so viele Synapsen wie andere, Reize werden schneller und intensiver verarbeitet, und anders gespeichert, behalten und erinnert. Auch die Amygdala oder Mandelkern, wo Gefühle verarbeitet werden, war bei diesen Ratten hyperaktiv.


Inti: Bei Menschen hat man das bisher noch nicht gemessen?


Madlaina: Genau, und das ist auch der grösste Kritikpunkt der Forschung gegenüber der Theorie der intensiven Welt. Deren Vertreter haben sogar schon gemutmasst, wenn Kinder in reizarmen Umgebungen aufwachsen würden, könne Autismus überwunden werden. Kritiker*innen betonen, die bisherigen Experimente reichen noch nicht aus, um die Behandlung autistischer Kinder auf den Kopf zu stellen, und Heilsversprechen seien verfrüht. Damit haben sie bestimmt recht, aber da die meisten Autist*innen reizarme Umgebungen bevorzugen, spricht nichts dagegen, Wohnungen, Therapieräume, Schulzimmer und Arbeitsorte im Rahmen der Verhältnismässigkeit anzupassen. Damit kann man wirklich nicht verlieren.


Autistisches Denken, Fühlen und Erleben


Inti: Du hast gesagt, es gäbe noch andere Erklärungen, die nicht so stark auf das Hirn fokussieren.

Madlaina: Richtig. Sie gehen neurobiologisch nicht so sehr ins Detail, sondern versuchen zu beschreiben, wie sich Autist*innen fühlen und was sie denken, und inwiefern dies die Verhaltensweisen erklären kann, die dem Umfeld manchmal ein Rätsel sind. Ich will heute drei dieser Ansätze vorstellen, den Monotropismus, den Body-Mind-Disconnect und die autistischen Denkstile nach Temple Grandin.


Monotropismus

Monotropismus bezeichnet erst einmal das Sich Beschäftigen mit einem Thema (mono = einzig, tropos = Gegenstand) und ist das Gegenteil von Polytropismus, der Beschäftigung mit mehreren Themen (poly = viel).


Die Theorie des Monotropismus wurde 2005 von Dinah Murray und Wenn Lawson entwickelt. Sie besagt, dass die Art der Aufmerksamkeitsfokussierung normalverteilt ist. Das heisst, starker Monotropismus und starker Polytropismus sind die Extreme, die meisten Menschen sind irgendwo dazwischen. Autist*innen sind nicht über die ganze Breite verteilt, sie erreichen das stark polytropische Ende nicht, sondern häufen sich auf der monotropischen Seite. In anderen Worten: Während alle Autist*innen mehr oder weniger monotropisch sind, sind nicht alle monotropischen Menschen autistisch.


Inti: Ok. Und weshalb kann Monotropismus Autismus erklären? Ich meine, ich sehe den Zusammenhang mit den Spezialinteressen, aber was ist mit den anderen Merkmalen?


Madlaina: Ich denke, die Reizüberflutung ist auch gut nachvollziehbar. Wenn auf allen fünf Sinnen Informationen hereinkommen, ist das einfach zu viel gleichzeitig. Auch soziale Situationen oder schon nur Gespräche, bei denen Informationen über Worte, Tonfall, Gestik, Mimik und Kontext vermittelt werden, sind für polytropische Menschen viel einfacher zu handhaben.


Inti: Monotropische Menschen nehmen also nur einen Kanal aufs Mal wahr, da ist logisch, dass viele Kanäle schwierig sind. Könnten sie nicht einfach in kurzen Abständen zwischen den Kanälen wechseln, um trotzdem ein vollständiges Bild zu erhalten?


Madlaina: Grundsätzlich schon. In manchen Situationen sind wir schlicht dazu gezwungen, vielleicht kann man es auch üben, da bin ich überfragt. Das Problem ist aber, dass man dadurch immer noch nicht alles mitbekommt, und dass jeder Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus eine kognitive Anstrengung bedeutet. Manche Autist*innen können unübersichtliche Situationen im Moment gut bewältigen, aber sie sind nachher völlig erschöpft.


Inti: Ich denke, die Grundzüge habe ich verstanden. Vielleicht können wir ein andermal vertieft über diese Theorie reden, und was sie für den Umgang mit autistischen Menschen bedeutet.


Mind-Body-Disconnect

Madlaina: Kommen wir also zur nächsten Theorie, die ich Mind-Body-Disconnect nenne. Meines Wissens gibt es dazu keine Studien, aber viele autobiographische Aussagen. Ich möchte eine sehr illustrative Geschichte zitieren. Ich habe sie vom Blog von Ido Kedar, der das Buch «Ido in Autismland» geschrieben hat.


Als Kind spricht er nicht, sein Umfeld und seine Therapeut*innen gehen davon aus, dass er einen minimalen Wortschatz hat. Über seine Therapie im Kleinkind- und Kindergartenalter schreibt er:

Oft ignoriert mein Körper meine Gedanken. Ich schaue die Bildkarten an. Du forderst mich auf, den Baum zu berühren. Und obwohl ich problemlos zwischen Baum, Haus, Junge, und was auch immer du sonst ausgelegt hast, unterscheiden kann, gehorcht mir meine Hand nicht zuverlässig. Mein Geist schreit: "Berühre nicht das Haus!" Die Hand geht zum Haus. In deinen Notizen steht "Ido war heute frustriert." Ja, Frustration ist die Reaktion darauf, wenn du deine Intelligenz nicht zeigen kannst und Experten deshalb folgern, du verstündest die menschliche Sprache nicht. (Ido Kedar, A Challenge to Autism Professionals, Übersetzung der Verfasserin)

Inti: Krass. Da wurde ja völlig am Problem vorbei therapiert.


Madlaina: Du sagst es. Idos Therapie, angewandte Verhaltensalanyse, dauerte vierzig Stunden pro Woche. Aber sie nützte nichts, weil man versuchte das nach Aussen sichtbare Verhalten (zum Beispiel das Zeigen auf die falsche Bildkarte) zu therapieren statt sich vertieft mit den Gründen dafür auseinanderzusetzen und langfristige Lösungen zu finden.


Inti: Wie kam es dazu, dass Ido dennoch sprechen lernte?


Madlaina: Oje, da war ich undeutlich. Ido spricht immer noch nicht und wird es wohl nie tun. Er schreibt. Mit sieben Jahren lernte er es, und sein Leben nahm eine Kehrtwendung. Er besuchte die Regelschule und alle konnten sehen, dass er keineswegs unintelligent war.


Inti: Und da gibt es tatsächlich keine Forschung?


Madlaina: Jein. Die Apraxie ist eine in der Medizin bekannte Symptomgruppe. Sie bezeichnet die Unfähigkeit, Bewegungsabläufe durchzuführen, weil die Muster dafür nicht aus dem Gehirn abgerufen werden können. Bei Schlaganfällen und Hirnverletzungen kann es zu Apraxie kommen. Erinnern wir uns, dass Autismus eine von der Norm abweichende Entwicklung des Gehirns und Nervensystems ist. Angeborene Apraxie passt gut in dieses Bild, und bei der Physio- und Ergotherapie gibt es Überschneidungen. Aber Grundlagenforschung zum Zusammenhang von Autismus und Apraxie konnte ich noch keine finden.


Inti: Alles klar. Also ein interessanter Aspekt, und die Geschichte von Ido Kedar ist eine gute Erinnerung daran, dass wir noch vieles über Autismus lernen können. Jetzt bleibt noch das letzte Thema für heute, die autistischen Denkstile nach Temple Grandin.


Autistische Denkstile

Madlaina: Temple Grandin ist eine der bekanntesten frühen autistischen Aktivistinnen und hat viel zu autistischem Denken geschrieben. Später hat sie sich für bildgebende neurologische Untersuchungen zur Verfügung gestellt, und tatsächlich weicht ihre Hirnaktivität von dem ab, was man bei nicht autistischen Menschen in den gegebenen Situationen erwarten würde.


Laut Grandin gibt es bei autistischen Menschen drei unterschiedliche Denkstile, die in verschiedener Kombination vorkommen können. Diesen Denkstilen überlagert ist eine Tendenz zum analytischen, assoziativen und detailorientierten Denken.


  1. Visuelles Denken, oft in fotorealistischen Bildern.

  2. Denken in Mustern, wie sie in Musik und Mathematik häufig sind.

  3. Wort- und faktenbasiertes Denken.


Inti: Und wie denken nicht autistische Menschen?


Madlaina: Bei euch ist das text- und narrativorientierte Denken stark verbreitet.


Inti: Und was, bitte, ist der Unterschied zwischen wort- und textorientiert?


Madlaina: Texte sind lange zusammenhängende Gebilde, oft mit einer narrativen Struktur. Du hast bestimmt auch schon gehört und erlebt, dass sich Menschen von Geschichten angesprochen fühlen, dass man sie z.B. mit Geschichten – am besten mit emotionsgeladenen Geschichten – besser überzeugen kann als mit nackten, kalten Fakten. Das wort- und faktenbasierte Denken ist ein Gegenpunkt: Sprache wird weder erzählerisch noch symbolisch genutzt, sondern um Tatsachen auszudrücken, für die sich Zahlen nicht besonders gut eignen.


Dieser Blogpost ist eine Art Mischform: Ich habe dich, liebe Inti, erfunden, damit du Zwischenfragen stellen kannst. Deshalb lässt sich der Text lässt sich wie eine Geschichte lesen. Man kann sich in dich einfühlen und mit dir lernen. Aber weil ich deine Fragen kursiv drucke, kann man sie auch als Orientierungspunkte nehmen, wie eine Art Zwischentitel. Dadurch hat der Text etwas sehr listenartiges und war für mich einfacher zu schreiben.


Inti: Und welche Implikationen ergeben sich für die Praxis?


Allen drei Denkstilen ist gemeinsam, dass sie das autistische Leben durchdringen. Autist*innen erarbeiten sich so Sinn und Verständnis, und sie von einem anderen Denk- und Lernstil zu überzeugen, kann oft kontraproduktiv sein. Autistische Menschen müssen schon als Kinder die Gelegenheit bekommen, ihr Denken kennenzulernen und anzuwenden. Lehrpersonen, Therapeut*innen, Vorgesetzte und Arbeitskollegen müssen informiert werden, wie alles durchdringend dieser Unterschied ist. Sie brauchen Übersetzungshilfe und Aufklärung. Sie müssen wissen, dass nur die Mehrheit denkt wie sie, nicht alle. Autistische Menschen können bis zu einem gewissen Grad lernen, zwischen ihrem Denkstil und dem in der Mehrheitsgesellschaft vorherrschenden text- und narrativorientierten Denken zu übersetzen, aber es bleibt eine Fremdsprache. Deshalb wird es immer zu Missverständnissen kommen, und zwar in beide Richtungen.


Diese Beidseitigkeit ist der springende Punkt: In meiner Erfahrung konnten Kommunikationsprobleme stets gelöst werden, solange beide Parteien bereit dazu waren, sich zu bewegen. Wenn aber eine Person den Eindruck hat, an ihrem Kommunikationsstil sei nichts zu verbessern, kann die andere sich noch so sehr verbiegen, sie wird nicht verstanden werden.

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